Es war Freitag der dreizehnte, als der Spamfilter unserer Firma versagte. Innerhalb einer Stunde sammelten sich 60 Mails in meiner Inbox an – 19 warben für Viagra, 9 wollten mir das Schnarchen abgewöhnen. Zwei Neffen Saddam Huseins baten um Hilfe bei einem Geldtransfer aus dem Irak, ebenso ein Schwiegersohn von Donald Rumsfeld. 18 junge Damen boten mir ein unvergessliches Liebeserlebnis an, 12 wollten lediglich Bilder von ihren unvergesslichen Liebeserlebnissen verkaufen. Die 60. Mail kam von meinem Chef selbst: „Kümmern Sie sich drum“.
Es dauerte eine Stunde bis ich unserem IT-Dienstleister klarmachen konnte, dass ich durchaus in der Lage war, Outlook zu bedienen und weitere vier, bis der Fehler behoben war. Irgendeine Logdatei war „übergelaufen“ – was immer das heiÃ?en mochte. Vor meinem geistigen Auge sah ich lauter Nullen und Einsen aus einem Servergehäuse heraustropfen, während sich eine Lavastrom von unwiderbringlich heiÃ?en Gelegenheiten unaufhaltsam in Richtung Kunden bewegte.
Als ich am Abend meinem Freund Günther mein Leid klagte, konnte ihn das ganz und gar nicht aus der Fassung bringen. „Ich weiÃ? gar nicht, was du hast – Ihr sucht doch ständig Content. Und wenn der dann frei Haus geliefert wird, beschwert Ihr Euch auch noch.“ Ich traute fast meinen Ohren nicht. War das der selbe Günther, der noch vor ein paar Wochen blutige Flüche gegen jeden Spammer ausstieÃ? und mir das Versprechen abnahm nicht mal unter der chinesischen Wasserfolter seine Emailadresse preiszugeben?
„WeiÃ?t Du“, sagte Günther, „mittlerweile habe ich eingesehen, dass Spam doch ganz nützlich ist.“ Und dann zeigte er mir sein neustes Projekt.
Günther ging in Dozierpose: „Milliarden Menschen auf der ganzen Welt richten sich nach Horoskopen, die aufgrund obskurer Formeln aus der Position von Himmelskörpern extrapoliert werden. Dabei haben die doch überhaupt nichts mit den Menschen zu tun. Spam hingegen hat Tausende Berührungspunkte mit dem normalen Menschen. Wir wählen unsere Emailadressen schlieÃ?lich selbst. Die Marketing-Guerillas tun das übrige: sie sortieren uns nach Geschlechtern, Wohnort, Interessen und nach Tausend anderen Kriterien. Als Ergebnis bekommt jeder von uns seinen ganz persönlichen Spam – ich vermute sogar, dass es keine zwei User auf der Welt gibt, die genau die gleichen Spamnachrichten bekommen – und falls die Mischung identisch ist, gibt es immer wieder Zeitverzögerungen. Tausend kleine Unwägbarkeiten und doch individuell zuordnungsfähig.“
Günther holte tief Luft. Ich war beeindruckt. Einen solchen Gedankengang konnte nur Günther oder ein anderer verdrehter Geist verfolgen. Drei Monate hatte er sich mit dieser Idee beschäftigt, hatte Wettervorhersagen, seine persönlichen Blutdruckwerte, die Lottozahlen systematisch erfasst – ja, er hatte sogar 2000 chinesische Glückskekse bestellt, um endlich den Algorithmus zu finden, mit dem sich von Spam auf das individelle Schicksal schlieÃ?en lieÃ?. Und er hatte Erfolg gehabt – so berichtete er.
„Du kennst doch die Kleine aus dem Kopierladen“, sagte Günther. „Letzte Woche errechnete ich den rätselhaften Sinnspruch: >>Geh ein Buch kopieren und die Glückseligkeit erwartet dich<<. Ich war verwirrt, aber ich schnappte mir eine Bedienungsanleitung mit 250 Seiten und ging in den Kopierladen. und siehe da: im Copyshop fiel der Computer aus, ich reparierte ihn in fünf Minuten und die kleine hat mich dafür sehr nett zum Essen eingeladen. Eine Woche voller Glück war gefolgt. Am Mittwoch hatte er drei Richtige im Lotto, am Freitag zahlte ihm der Geldautomat 20 Euro zuviel aus, am Sonntag war ihm sogar ein Firstpost bei Slashdot gelungen - jedesmal hatte ihm sein Programm den richtigen Weg gewiesen. Und das, obwohl es erst eine frühe Alpha-Version war. Ich hatte genug gehört: "ich möchte das Programm haben." Günther hatte aber Bedenken: "WeiÃ?t Du, dieses Programm braucht verdammt viel Input. Unter 300 Spam-Mails am Tag geht gar nichts. AuÃ?erdem darfst Du keine anderen Spamfilter verwenden. Und es muss Deine Mailadresse sein: keine Firmenadresse, keine Fake-Adresse, kein Wegwerf-Account." Verdammt, ich brachte es privat grade mal auf 30 bis 40 Mails am Tag. Aber das sollte kein Problem sein. Es begannen Tage des Leichtsinns. Günther hatte mich nach langem Hin und Her als Betatester akzeptiert und ich musste anfangen, meine Spamquote hochzuschrauben. Auf meinen ersten Test meldete das Programm nur: "Error 102: zu wenig Input." Ich postete im Usenet und schilderte dort auf erbarmungswürdige Weise meine Potenzprobleme. Ergebnis: 80 Mails am Tag. Ich antwortete einem Nigeria-Spcammer, dass ich grundsätzlich keine Investitionen unter 10 Millionen Dollar in Erwägung zöge. Error 102. Ich bestellte mir eine kostenlose Drei-Tag-Mitgliedschaft im Horny-Porno-Center. 150 Mails. Ich klickte auf jeden Link, der mir versprach, dass meine Mailadresse gelöscht werden sollte - immer noch Error 102. Dann bestellte ich ein Buch bei einem groÃ?en Onlinehändler und endlich: erstmals kam ich auf 300 Mails am Tag. Ich startete das Programm und es rechnete und rechnete. Der Fortschrittsbalken kroch wie eine lindgrüne Schnecke nach rechts. SchlieÃ?lich war es soweit: Ein schlichter Satz schob sich in das Fenster und fing dort an rot zu blinken. Ich las und konnte es nicht fassen. Mit Hingabe verfluchte Günther und alle besserwisserischen Nerds, die je auf diesem Planeten leben werden. Auf dem Bildschirm stand: "Du musst Dir eine neue Mailadresse besorgen: auf dieser kommt nur noch Spam." Immerhin - die Vorhersage stimmte. (c)Torsten Kleinz