Vorwurfsvoll starrt er mich an. Blau oder rot hängt er da und starrt mich an.
Er ist nur einer von über 100 Links auf der durchschnittlichen Wikipedia-Seite – aber er ist besonders. Er heißt „Beobachtungsliste“ und ist der Fluch meiner langen Tage und kurzen Nächte. Klicke ich auf ihn, bekomme ich eine Liste der Artikel geliefert, die mich interessieren — und mit denen gewöhnlich irgendjemand wieder etwas Schreckliches angestellt hat.
Wer hätte gedacht, dass Links vorwurfsvoll starren können? Damals, als ich mich bei Wikipedia angemeldet hatte, war ich naiv. Ein paar Tippfehler habe ich noch ohne Anmeldung ausgebessert – aber als ich eine Frage zu einem Artikel hatte, blieb mir nichts übrig, als mich doch anzumelden. Schließlich wollte ich ja auch eine Antwort bekommen. Es war der Einstieg in eine Suchtkarriere. Wir kennen das aus billigen ZDF-Krimis: Nur der erste Schuss ist gratis. Danach musst Du zahlen.
Der Tribut an die Wikipedia: Wer einen Artikel begonnen hat, ist für ihn verantwortlich. Fortan wird jede kleine Veränderung an dem Artikel in die Beobachtungsliste geschaufelt. Sicher: man könnte es ignorieren. Aber es erfordert Willenskraft, nicht nachzuschauen, was andere mit dem eigenen Artikel, mit der eigenen Arbeit gemacht haben. Noch schlimmer ist die teuflische Schwester der Beobachtungliste: „Eigene Beiträge“ verzeichnet jede Änderung, die Du je gemacht hast — egal ob Diskussionsbeitrag, Rechtschreibefehler oder Quellennachweis — und natürlich die Änderungen, die nach Dir kamen. Hat jemand Deine Ergänzung rückgängig gemacht? Den klaren Satz in Geschwurbel verwandelt? Einen falschen Vornamen ergänzt? Schau lieber nach. Wenn Du es nicht korrigierst, wird es vielleicht niemand anderes tun. Und das ist einfach falsch.
Oft wird von der Wikipedia als dem „wisdom of the crowd“ oder der „Weisheit der vielen“ gesprochen. Wer wirklich in der Online-Enzyklopädie aktiv bist, hat jedoch viel mit der Dummheit der vielen zu tun. Schüler, die das Wort „Votze“ mitten in den Artikel über das Bruttosozialprodukt setzen. Frührentner, die den Frust ihres Lebens niederschreiben. Professoren, die nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch die Gepflogenheit des „peer review“ und der wissenschaftlichen Zitierweise längst vergessen haben. Trolle. Das hive mind hat ein hive mindless geboren.
Der Klick auf die Beobachtungsliste zeigt zwar auch sehr viel Ermutigendes: Artikel wachsen, Quellen werden ergänzt, Leute machen sich sehr viel Arbeit – aber wenn dann zum fünfzigsten Mal jemand einen Link auf sein Blog in den Artikel schmuggelt, um sein Google-Ranking zu erhöhen, dann zweifelt jeder Mal.
Oft wird darüber gerätselt, warum die Millionen Artikel in der Wikipedia von scheinbar so wenigen Autoren geschrieben werden. Die Erklärung scheint mir klar. Die einen haben einen Account angelegt und gesehen, was die Beobachtungsliste mit einem Menschen anstellen kann. Sie entschieden sich richtig und zogen von dannen. Die anderen gaben nach und schufen das größte Nachschlagewerk der Weltgeschichte.
(Mein eigener Wikipedia-Account liegt seit Jahren still. Die Existenz als anonyme IP ohne Verantwortung und schlechtes Gewissen liegt mir dann doch mehr.)