IRC – die Nerdfahrschule

Wer ein richtiger Nerd werden will, sollte sich im Internet Relay Chat – kurz: IRC – umsehen. Dieses Chatsystem ist eine Mischung aus Einstiegsdroge und Nerdfahrschule. Ganze Generationen haben Ihre Jugend auf IRC-Servern verbracht. Für viele ist der IRC-Kanal zum Stammtisch oder gar zum – man verzeihe mir das Wort – virtuellen Wohnzimmer geworden. Ein Wohnzimmer mit 40 Leuten, von denen ständig 35 schlafen, ein Zimmer mit Kickorgien und einem ausgefeilten Sozialsystem.

Ich will an dieser Stelle nicht mit langwierigen technischen Erklärungen anfangen. Wer nicht weiß, wie er ins IRC kommt, sollte ruhig Onkel Google fragen. Es gibt Dutzende verschiedener IRC-Programm (auch bekannt als „Clients“), Hunderte verschiedener IRC-Netzwerke und Myriaden verschiedener Channel.

Das IRC ist steinalt – die Beschreibung des Protokolls (RFC1459) stammt aus dem Jahr 1993. Im Gegensatz zu ICQ, AIM und all den Errungenschaften der neuen Chat ist IRC ziemlich textlastig und nicht sehr intuitiv – gleichzeitig aber auch offen und erweiterbar. Obwohl ich mir Dutzende anderer Clients und Systeme angesehen habe, habe ich keine Funktionalität gefunden, die nicht auch mit IRC zu verwirklichen ist beziehungsweise nicht schon längst dort Alltag ist.

Das Merkwürdige ist, dass in dieser Textwüste ausgefeilte soziale Regeln und Hackordnungen entstehen, die zum Teil sehr viel ernster genommen werden als im „wirklichen Leben“. Wer in einen Raum kommt ohne zu grüßen, gilt als unhöflich und wird schnell wieder hinausbefördert.

Wer vom Internet als der besseren Welt ohne soziale Unterschiede träumt – im IRC wird er kuriert. Es gibt eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Ops und normale User. Die Ops haben alle Fäden in der Hand: sie können User in Ihren Channel einladen, sie können sie wieder herausbefödern, sie können das Channelmotto ändern und sie können andere User zu Ops befördern.

Diese Rechte werden je nach Kanal und IRC-Netz sehr unterschiedlich genutzt – Mehrheitsentscheidungen sind jedoch nicht vorgesehen oder durchsetzbar. Jemand tut etwas und muss mit den Konsequenzen und den Reaktionen anderer rechnen. Schließlich einigt man sich auf bestimmte Channel-Regeln, die jedoch nicht eisern gelten. Wer die Channel-Statistik verwaltet, die Homepage designt oder den Channelbot administriert, darf sich ruhig etwas mehr erlauben.

Im oben erwähnten RFC wird die Machtfülle des Ops quasi zur technischen Bestandteil des Protokolls erhoben. „As an owner of a channel, a channel operator is not required to have reasons for their actions, although if their actions are generally antisocial or otherwise abusive, it might be reasonable to ask an IRC operator to intervene, or for the usersjust leave and go elsewhere and form their own channel.“ Sprich: das IRC ist eine Ansammlung von vielen kleinen Diktaturen und Aristokratien. Ein wesentlicher Unterschied zur Staatsform gibt es aber doch: Jeder kann seine eigene Diktatur aufmachen.